Mit den Augen lernen - Erinnerungen aus Japan

von Ralf Wagner

Als ich im Mai 1993 für sechs Wochen nach Japan reiste, kannte ich nur wenig von der Kunst des traditionellen japanischen Puppenspiels - Bunraku. Es war die zweite Reise in dieses fremde Land und mein Interesse für diese Kultur war groß.

Die Vorgeschichte

Ralf Wagner in der Bühne Muriel Camus (Théâtre Anima) konzipierte 1992 eine Ausstellung in der Galerie des Jugend- und Kulturzentrum Wasserturm in Kreuzberg mit dem Titel: Awaji ningyo joruri, das traditionelle japanische Puppenspiel aus Awaji. Diese Ausstellung war das Ergebnis mehrere Aufenthalte auf der Insel Awaji.

Ich erhielt den Auftrag, die fehlenden Teile einer weiblichen Figur anzufertigen. Ich arbeitete nach Vorlagen aus Büchern über die Konstruktion und den Bau von Bunrakupuppen. Das Ergebnis war wohl zufriedenstellend, denn als Muriel Camus mit ihrem damaligen Kollegen Niklas Elsenhans einen erneuten Studien- und Arbeitsaufenthalt am Theater in Awaji plante, fragte sie mich, ob ich Interesse hätte, mich genauer mit dem japanischen Puppenspiel und vor allem mit dem Puppenbau zu beschäftigen. So reisten wir zu dritt.

Die Reiseroute führte uns von Berlin über Tokio nach Osaka und Awaji. Herr Umazume, Künstlerischer Leiter des Awaji Puppentheaters, ermöglichte mir das Studium der besonderen Schnitz- und Bautechnik des Bunraku beim Meister Hyurakame 1) in Osaka und beim Lehrer Fujino-Sensei auf der Insel Awaji.

Auf Awaji

Das Theater trägt den Namen dieser kleinen Insel in der Bucht von Osaka. Beim ersten Aufenthalt konnte ich den Theaterbetrieb mit seinen ca. 20 Spielern und Angestellten kennen lernen.
Figurengestalter zeigen ihre Arbeit im Rahmen des Symposiums Zwischen den Vorstellungen am Theater (es gibt fünf bis sieben an einem Tag, jeweils eine halbe Stunde lang) war Gelegenheit die Führungstechnik der Figuren zu untersuchen Die Spieler zeigten mir auf der engen Hinterbühne zwischen den Kulissen wie man einen Unterkörper für eine männliche Puppe baut. Für Werkstatträume gab es nämlich im Theater keinen Platz.
In der Schule, wo er die Awaji-Variante der Bunraku-Technik unterrichtete, zeigte mir Fujino - Sensei die Herstellung eines Männerkopfes aus Balsaholz für eine Samurai-Figur.

In Osaka

Meister Hyurakame, ein kleiner Mann, der die 70 Jahre überschritten hatte, nahm mich etwas distanziert, aber freundlich auf. Ich wurde in die Werkstatt gebeten, einem kleinen Tatamiraum (mit dicken Reisstrohmatten ausgelegten Raum) von ca. 8 x 8 m, und bekam einen Sitzplatz auf dem Fußboden zugewiesen. Ich erhielt ein Kissen zum Sitzen und einen Holzklotz als Arbeitsfläche.
Er arbeitete gerade an einem Kopf, an diesem Tag sollte ich nur zusehen.
Dies war meine erste Aufgabe, den Meister genau zu beobachten. Unsere Kommunikation bestand aus einigen Worten Japanisch und einigen Brocken Englisch. Das deutsch-japanische Wörterbuch erwies sich bald als wenig brauchbar. So waren schnell skizzierte Zeichnungen auf Papier eine adäquatere Form der Annäherung.

Ein Kopf entsteht Am nächsten Tag bekam ich einen Stück Zedernholz, merkwürdige Schnitzeisen und flache Messerklingen in die Hand. Die Eisen waren teilweise anders geformt als ich sie kannte und der Stahl bestand aus einer weichen und einer harten Schicht. Au§erdem waren sie rasiermesserscharf, was ich am eigenen Leib zu spüren bekam.

An einem Vormittag, es waren etwa 32 Grad und eine hohe Luftfeuchtigkeit in der Werkstatt. Es wehte ein schwaches Lüftchen, das ein Ventilator bewerkstelligte. Eine Klimaanlage gab es nur in den Wohnräumen des traditionellen Holzhauses. Die Konzentration ließ nach, das Messer rutschte ab und hinterließ am linken Handballen eine Schnittwunde, die mit sechs Stichen genäht wurde.
Die Arbeit musste ein paar Tagen ruhen, so fuhr ich mit dem Schiff von Osaka nach Awaji, um am dortigen Theater weitere Eindrücke zu sammeln.
Dort beschäftigte ich mich mit der Awaji - Technik, die aus einer eher bäuerlichen Tradition stammt. Die Hauptfiguren sind größer als die Bunraku-Figuren.
So lernte ich unter der Woche in Osaka und am Wochenende in Awaji.

Wieder in Osaka

Meister Hyurakame zeichnete auf Holz mit einem Pinsel und schwarzer Tusche einen Grundriss. Ich sollte daraus die rechte Hand einer jungen weiblichen Bunraku-Figur schnitzen. Diese Hände sind kleine Wunderwerke, sie sind an zwei Gelenken mit Tierhaut verbunden. Durch Schnurmechanik beweglich, können sie realistische Gebärden ausführen. Der Hauptspieler bedient den Kopf und die rechte Hand. Ein zweiter Spieler führt die linke Hand über eine Führungsverlängerung und der dritte bewegt die Füße.

Die Figuren Manago und Toyo-o  aus dem Atelier von Ralf Wagner Das Frauengesicht einer Bunraku-Figur hat einen feinen Duktus, es ist fast starr mit einem leichten Lächeln. Zufälliges hat keinen Platz. Augen, Mund, Nase, Haaransatz und Ohren haben scheinbar ein festes Koordinatensystem. Trotz der Gleichmäßigkeit wirken die Gesichter lebendig.

Alle Teile werden aus natürlichen Materialien hergestellt: biegsame Federn aus Walzähnen; Stifte und Nägel aus Bambus; Schnüre gedreht aus Papier oder aus Darmsaiten. Alle Arbeiten werden auf traditioneller Weise, ohne elektrische Werkzeuge, verrichtet.

Ein Kopf in zwei Hälften geteilt und ausgehöhlt war das Muster für meinen ersten selbstgearbeiteten Kopf. Ich begann also Schritt für Schritt und verglich ständig mit dem Vorbild. Am Gestus meines Lehrers, spürte ich Ermutigung weiterzumachen. Sein "Mmmmmm" oder "Oooooh" musste ich erst deuten lernen, denn sie konnten Vorsicht oder Zustimmung heißen.
Manchmal klopfte er mir sogar unjapanisch auf die Schulter.

Das Ergebnis mehrwöchiger Arbeit war ein Kopf mit beweglichen Augen, bemalt mit zehn dünnen Schichten einer weißen Farbe, bestehend aus Fischleim und Muschelkalk. Die genaue Mixtur ist ein Geheimnis. Zwischen dem Auftragen der Farbschichten wurde immer wieder intensiv geschliffen und poliert, so dass ein porzellanähnliches Aussehen erreicht wurde.

Am Ende meines Aufenthaltes führte mich Meister Hyurakame durch viele enge Gassen in seinem Wohnviertel, in dem er sehr bekannt war. In einen kleinen Werkzeugladen suchte er mit mir einige Messer aus, die ich kaufte und mit nach Deutschland nahm. Dies war vielleicht seine Art der stillen Aufforderung an mich, zu Hause das erworbene Wissen und die Arbeit fortzuführen.

1) Meister Hyurakame ist leider letztes Jahr verstorben. Damit verschwand einer der letzten professionellen Bunraku Figurenbauer Japans.

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