Die Einladung zum Festival der traditionellen Puppenspielkünste Japans in Awaji
von Muriel Camus
Der Anlass für die Einladung zum Festival der traditionellen Puppenspielkünste Japans in Awaji 1). Anfang Oktober 1999 war die Gemeinschaftsinszenierung "Die Liebe einer Schlange" von Theater auf der Zitadelle (Regina und Ralf Wagner), Théâtre Anima (Muriel Camus) und sandkorn-theater-berlin (Reiner Anding) unter der Regie von Gunnar Helm. Dieses kurze Stück war einer der drei Beiträge von Berliner Figurentheatern, die unter dem Namen "Poesie des Unheimlichen" im Februar 1999 Premiere hatten. "Die Liebe einer Schlange" ist eine bizarre Liebesgeschichte zwischen einem Dämon und einem Menschen. Sein Autor ist der in Japan sehr bekannte Klassiker Ueda Akinari.
Die Umsetzung dieser Erzählung als Figurenspiel reizte uns zum Einem als Ausdruck unserer gemeinsamen Liebe und Bewunderung für die japanische Kunst und Ästhetik, und zum Anderen als Herausforderung; unsere erworbenen Kenntnisse in Japan einzusetzen. Denn Ralf Wagner war mit der Bau- und Schnitztechnik und ich mit der Spielweise vertraut, die wir in Osaka bzw. in Awaji gelernt hatten.
In dieser Inszenierung haben wir uns bewusst dem Bunraku 2) nur angelehnt. Es ging uns allen nicht darum das Original treu zu kopieren, sondern es als Quelle der Inspiration für die eigene Arbeit mit Puppen zu nehmen, um diese Impulse in die eigene künstlerische Arbeit mit einflie§en zu lassen. Und so begegneten wir mit der "Liebe einer Schlange" unseren japanischen Lehrern, Meistern und Vorbildern zwar mit einer gewissen Portion Selbstbewusstsein, doch mit einem leichten Kneifen im Bauch.
Als wichtigste Veränderungen bzw. Neuerungen, die mit Wohlwollen auch vom Fachpublikum angenommen wurden, wären zu erwähnen, dass der Text des Erzählers nicht wie im Bunraku gesungen, sondern gesprochen wurde. Musik verwendeten wir zur Untermalung der Stimmung einer Szene. Der Erzähler, Gunnar Helm, erzählte nicht nur die Geschichte, sondern er führte sie. Er setzte rhythmische Zeichen, wie das Schlagen der Klanghölzer, zur Steigerung einer dramatischen Handlung, oder das Läuten einer Glocke, um Veränderungen anzuzeigen.
Das Bühnenbild, inspiriert von der japanischen Ästhetik wie z. B. der Kalligraphie, spielte eine große Rolle in diesem Stück, und war sogar ein Teil der Aktion. Das Bühnenbild, stellte ein japanisches Zimmer dar, reduziert auf zwei Schiebetüren, die eine Tokonoma 3) einrahmten. Diese Tokonoma war eine Papierrolle, auf die Bilder per Overheadprojektor gespiegelt wurden. Während des Geschehens malte Ralf Wagner mit schwarzer Tusche auf die Projektorfolie. Die entstandenen Bilder waren keine bloßen Illustrationen, sondern sie materialisierten die Stimmung der Szene.
Der Einsatz von Lichteffekten, sogar die Licht- und Farbwechsel rief Begeisterung hervor. Denn traditionellerweise fanden die Aufführungen unter dem Fackelschein statt (heutzutage nur mit fester Grundlichteinstellung) und Lichtwechsel sind ihnen in dem Zusammenhang unbekannt. Auch manche Bewegungen und Posen unserer Figuren, ausgeführt von Regina Wagner und Reiner Anding, lösten Jubelschreie und Klatschen aus. Alles in allem ein Erfolg und eine große Erleichterung gemischt mit dem Stolz auch ihnen, dem Publikum, unseren Lehrern, etwas davon zurückzugeben, was sie uns damals schenkten.
Zu erwähnen wäre noch, dass während dieser drei Tage ein Symposium stattfand. Es trafen sich ungefähr 30 Gruppen, Amateure und Professionelle, Vertreter der traditionellen Puppenspielkünste aus ganz Japan. Sie erzählten den Anwesenden u.a. der Kultur Ministerin aus Tokyo, den verschiedenen Politikern und den hohen Beamten der Landesregierung von ihren Sorgen und Schwierigkeiten - vor allem finanzieller Art - zu überleben. Es gab uns schon über die momentane Pflege der traditionellen Künste in Japan zu denken, denn nur das Bunraku -Theater aus Osaka erhält Subventionen vom Staat. Die anderen werden entweder nur sporadisch unterstützt, wie das Awaji Puppentheater, oder sind ganz auf private Hilfe angewiesen.
An diesem Tag hatten wir die Gelegenheit unser Stück vorzustellen und sozusagen als "Vertreter für Deutschland" die Entwicklung des europäischen Puppenspiels in zwei Vorträgen, die ich auf Japanisch hielt, kurz anzureißen. Allerdings ohne Schuhe! Denn es gehörte sich nicht, die lange Bühne mit Straßenschuhen zu betreten. So standen wir alle, die fünf herausgeputzten Gäste aus Deutschland, auf der Bühne. Unsere zierlichen europäischen Füße in hässliche bräunliche Plastiklatschen gehüllt! Ein wahrlich köstlicher Anblick!
Zur Krönung des Tages gab es Abends die ersehnte Fete mit den kulinarischen Spezialitäten der Awaji Insel und dazu Unmengen Bier und Sake 4) . Aber bevor sich die Serviererinnen mit den wunderschönen Kimonos auf uns stürzen durften, und den einen oder den anderen Mann wie ein Kind tätschelten, musste man eine endlose Rede über sich ergehen lassen. Viele der Anwesenden schlummerten leicht, wie so oft gesehen, auf ihren Stühlen ohne zu Boden zu fallen (die Kunst des geraden Rückgrates), bis das Kommando gegeben wurde und die hübsche Bedienung im Galopp das Essen auftrugen. Es wurde schnell gegessen, schnell getrunken, schnell gesprochen, schnell gesungen, und schnell nach Hause gegangen. Kurzum ein geselliger japanischer Abend!
Am nächsten Tag gab es unseren Auftritt, den ich schon beschrieb und zwölf andere Gruppen im 30-minutentakt etwa von morgens 9.00 bis abends 18.00 Uhr. Wir sahen eine 700 Jahre alte Technik (wohl eine Vorform des Bunraku): Die Puppen waren etwa 20 bis 25cm groß aus Stoff, aufgespießt auf einem Führungsstock. Es waren vier mutige Krieger, die gegen schwarze Ungeheuer in den Kampf zogen. Und sie taten dies im Rhythmus des rezitierten, gesungenen Textes in der Art einer Litanei. Sie bewegten sich mit großen schweren Schritten auf der Stelle, links, rechts, links, rechts, alle zusammen, bis einer sprach und schneller auf der Stelle trat.
Der Reiz dieser Aufführung waren die möglichen Rhythmuswechsel: zwei sind schneller als die zwei anderen, dann drei, dann wieder nur einer, und dann plötzlich ex machina taucht der pechschwarze zottelige Dämon auf. Andere Vorstellungen waren fast alle Bunraku-Spiele von hoher Qualität, jeweils nur eine kurze Szene von bekannten Dramen. Am nächsten Tag gab es auch viele Schüleraufführungen, die hervorragendes Niveau erreichten. Diese Technik wird nämlich an vielen Schulen der Insel Awaji unterrichtet. Die Leute in Awaji hoffen - und wir mit ihnen - dass diese wunderschöne Kunst nicht eingehen wird.
1) Die Awaji Insel liegt in der Bucht von Osaka. Sie ist an beiden Seiten mit einer langen Schwebebrücke mit Kobe und mit der Insel Shikoku verbunden.
2) Gesungene bzw. erzählte epische Geschichte oder Drama. Sie spielen mit Gro§figuren, die von 3 Personen gleichzeitig geführt werden.
3) Eine Nische in der kostbare Kunstwerke ausgestellt werden, meistens eine Kalligraphie, eine Tuschzeichnung in der Form einer Papierrolle, eine wertvolle Vase, ein kunstvolles Blumenarrangement.
4) Reiswein